Bach : vokalJohann Sebastian Bach | Die Vokalmusik | Stiftskirche Stuttgart | 2011-2021

Stiftsdienstag

Vortrag und Gespräch mit Martin Klumpp

Dienstag, 24.06.2014 · 19:00 – 20:30 Uhr
Stiftskirche

»Bachs geistliche & weltliche Musik - zwei Welten oder eine?«


Eintritt frei.


Johann Sebastian Bach als bibeltreuer Theologe.

Martin Klumpp, Stuttgart

 

                                                                                                             Hinführung

Am 30. April 1830 schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche an seinen Freund Erwin Rhode: » In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedes Mal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein  Evangelium«.

Der berühmte französische Organist und Komponist Ch. M. Widor, der Orgellehrer Albert Schweitzers, meinte: »Für mich ist Bach der größte Prediger«. Und der schwedische Theologe und Philosoph Nathan Söderblom pries Bach als den »fünften Evangelisten«. Wir wollen heute aufzeigen, dass er sich dabei gewissenhaft und präzise am Wort der Heiligen Schrift orientierte. Wir wollen entdecken, wie er dazu kam, wie vielfältig er dabei arbeitete, und wie deshalb nicht nur die von ihm vertonten Texte, sondern auch die von ihm geschaffene Musik in Klang, Struktur, Harmonik, Rhythmus und Dynamik das Evangelium zum Klingen bringt. Dabei entdecken wir, dass Bach nicht nur ein hochfliegendes Genie war, dem alles im Sinne der Romantik leicht und einfach aus der Feder floss. Wir erkennen, wie er geradezu handwerklich und wissenschaftlich das Wort der Bibel auf vielfältige Weise studierte, exegetisch durchdrang und damit ganz bewusst theologische Inhalte in Musik umzusetzen versuchte.

                                                                                                     

                                                                                                 Erste Annäherung

 Mit drei Beispielen wagen ein ersten Blick in die Werkstatt des Meisters.

- Viele kennen den Eingangschor der Matthäuspassion. Das doppelchörig besetzte Orchester beginnt mit einer aufsteigenden Melodie in einem Rhythmus, der manchmal wie ein Trauermarsch klingt, manchmal wie ein kultischer Tanz. Bach wollte dieses Schweben. Drei Chöre kommen ins Spiel. Die Zahl drei bedeutet bei Bach oft Dreieinigkeit. In dem, was hier erzählt wird, offenbart sich Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die »Töchter« ziehen hinauf. Offenbarung 19, 7 klingt  an: »Lasst uns freuen und fröhlich sein;…denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Braut hat sich bereitet«. Deshalb dieses Schweben zwischen Trauer und Tanz.  Bach vermittelt uns theologisch: Das Sterben Jesu in Jerusalem, auf dem Berg Zion –Erinnerung an Jesaia-, ist der Gipfel der Inkarnation, d. h. der innigsten Vereinigung von Gott und Mensch, die im Bild von Christus als dem Bräutigam und der glaubenden Seele des Menschen, bzw der Kirche als Braut beschrieben wird.

Nun will Bach aber die Geschichte von Jesu Leiden nicht nur sachlich erzählen. Wir sollen uns davon bewegen lassen, dass sie für uns –trotz Karfreitag- zum froh machenden Ereignis wird. Das geschieht nicht nur durch die schwebende Bewegtheit der Musik, sondern auch durch die Rollenverteilung der Chöre. Chor eins repräsentiert gewissermaßen die fromme Gemeinde, die hinaufzieht und klagend betrachtet, wie der als Bräutigam Geliebte stirbt. »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, sehet den Bräutigam; seht ihn wie ein Lamm«. Chor zwei repräsentiert den Teil der Menschen, die zweifeln, nicht begreifen, ratlos zaudern. »Sehet! Wen? Den Bräutigam. Seht ihn: Wie? als wie ein Lamm«. Der dritte Chor durchdringt diesen Dialog durch den Choral »O, Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet«. Bekenntnis der Kirche; das allen bekannte »Agnus dei« nicht nur aus dem Munde des Liturgen, sondern im Lied der Gemeinde. Hier wird – gut biblisch- Jesaia 53 zitiert. Wir erfahren schon jetzt im Eingangschor, was dieses Geschehen bedeutet: Heil für uns, Vergebung der Sünden. Das klingt durch allen Zweifel und Dialog hindurch. Fast alle Inhalte, um die es in der Passionsgeschichte bei Matthäus geht, sind bereits jetzt im Eingangschor schon angeklungen.

- Ganz anders beginnt die Johannespassion. Bach kennt die theologischen Unterschiede zwischen Matthäus und Johannes. Er stellt sie musikalisch dar.

Da kommen nicht klagende Töchter. Die ersten Töne im Orchester klingen wie eine Verherrlichung des Schöpfers, wunderbar hebt sein Schöpferhandeln an. Dann dieser dreimalige herrliche Ausruf: »Herr, Herr, Herr!« Es geht weiter mit den Worten »unser Herrscher«, die in Koloraturen aufwärts gesungen werden. D.h. im Passionsgeschehen greift der dreieinige Gott –deshalb drei Ausrufe-  handelnd, bewegend, als Schöpfer, in seine Schöpfung ein. Johannes schildert nicht nur die Niedrigkeit des leidenden Christus, sondern wie sich im Leiden gerade die Herrlichkeit seiner Liebe offenbart. Jesus betet »Vater, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche« (Joh. 17,1) Dementsprechend hören die Gläubigen im Schlusschor auf, die Gebeine zu beweinen. Wo das Grab geschlossen ist, eröffnet sich der Himmel »und schließt die Hölle zu«. Weil der Tod Jesu Erhöhung, Sieg und Herrlichkeit bedeutet, steht am Ende der Passion –dargestellt im Choral »Ach, Herr lass dein lieb Engelein«- die gewisse Hoffnung auf die Auferstehung.

- Nehmen wir im dritten Beispiel noch wahr, wie präzise Bach in seinen Rezitativen  darstellt und hervorhebt, was jeweils inhaltlich und theologisch wichtig ist.

- das erste Rezitativ: »Da Jesus diese Rede vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern: Ihr wisset, dass nach zween Tagen Ostern wird, und des Menschen Sohn wird überantwortet werden, dass er gekreuziget würde.« Was sind die wichtigsten Worte dieses kurzen Abschnitts? Da Jesus diese Rede vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern. Bei Matthäus begegnet uns Jesus als Lehrer, als zweiter Moses, der die Erfüllung des Gesetzes bringt. Deshalb werden die Worte Jesus und Rede betont. Jetzt aber ist die Phase des Redens und Lehrens beendet. Es beginnt ein neuer Abschnitt. Deshalb zielt die Melodie auf die beiden Worte vollendet hatte wie auf einen Doppelpunkt. Während der sachliche Bericht des Evangeliums vom Tenor vorgetragen wird, werden die Worte Jesu vom Bass (vox Christi) gesungen und vom Orchester begleitet. Die Aura seiner Gegenwart soll im Klang präsent sein. Bach durchbricht den Fluss der Erzählung des Tenors von historisch Vergangenem, und lässt gewissermaßen Jesus selbst erscheinen.

Welche Worte sind in dem, was Jesus nun sagt, besonders wichtig? »Ihr wisset, dass nach zween Tagen Ostern wird, und des Menschen Sohn wird überantwortet werden, dass er gekreuziget würde«. Beim Wort gekreuzigt durchbricht Bach die Normalform des Rezitativs und fügt eine ariose Passage ein. In Tonsprüngen mit wechselnden Tonarten zeichnet er die Form eines Kreuzes.

Wir erkennen: Durch die Linie der Melodie, durch die Länge der Töne, durch den Rhythmus der Musik, durch die Wiederholung von Tönen, durch die Abbildung des Kreuzes in den gesungenen Linien  inszeniert Bach –ohne dass uns dies beim Hören immer bewusst wird- das Erzählte. Wir müssen es auch nicht immer analysierend hören. Wir können Gott dafür danken, dass wir mit Herz, Seele, Geist und Körper von dem erfasst werden, worum es hier geht.

                                                                                 Bachs Leben als Lutheraner

1717 zog Bach von Weimar, wo er schon einen ganzen Zyklus von Kantaten komponiert hatte, an den Hof des Fürsten Leopold von Anhalt–Köthen. Dieser Landesherr war aber zum reformierten Glauben übergetreten. Bach verstand sich so bewusst als Lutheraner, dass er nicht der Gemeinde seines Landesherrn angehören wollte, sondern in die lutherische Kirche ging und auch seine Kinder in einer neu gegründeten lutherischen Schule anmeldete. Auf dem  Klavierbüchlein, das er 1722 in Köthen aufschrieb und seiner zweiten Frau Anna Magdalena widmete, verzeichnete er die Titel zweier theologischer Bücher, die er selbst besaß, »Anticalvinismus« und »Antimelancholicus« von August Pfeiffer (1640 – 1698). Dort hieß es, man solle als Lutheraner den Kontakt zu Reformierten zwar nicht ganz abbrechen; aber die reformierte Lehre stoße den »Grund des Glaubens« um und sei also »verdammlich«. Vor allem an der reformierten Abendmahlstheologie nahm Bach Anstoß.

Von Kindesbeinen an, in allen Schulen, die Johann Sebastian besuchte, war es selbstverständlich, dass täglich aus der Bibel vorgelesen wurde, dass man wichtige Texte der Bibel, vor allem Psalmen,  den lutherischen Katechismus und viele Choräle auswendig kannte. An der Michaelisschule in Lüneburg, in die der vierzehnjährige Waisenknabe als Stipendiat aufgenommen wurde, wurden alle Schüler in Dogmatik ausgebildet, indem sie  das Buch »Compendium locorum theologicorum« (Zusammenfassung theologischer Lehrstücke) des damals berühmten Theologen Leonhard Hutter (1563 – 1616) lasen und studierten. Dieses Buch war so bekannt und begehrt, dass auch den Thomanern, die Bach später selbst unterrichtete, täglich daraus vorgelesen wurde. Bach kannte die verschiedenen Lehrstücke der lutherischen Theologie so gut, dass er sie von sich aus wiedergeben konnte.

Auch im Leben des erwachsenen Bach spielte der Glaube eine existentiell wichtige Rolle. Dauernd war er konfrontiert mit Tod und Sterben. Mit elf Jahren war er Waise, mit 36 Jahren stirbt seine erste Frau Maria Barbara. Von den 20 geborenen Kindern sterben 11 im frühen Kindesalter. In den sieben Jahren zwischen 1726 bis 1733 bringt er jedes Jahr ein Kind zum Friedhof. Von daher hatten die Fragen nach Tod und Auferstehung, nach Anfechtung, Trauer und Trost eine ganz andere Bedeutung als für die meisten Menschen heute.

Zum Leben Bachs gehörte, dass er immer einen Beichtvater zur Seite hatte, den er sich unter den Pfarrern Leipzigs selber wählte, mit dem er ständig das ihn Belastende besprechen konnte, und den er nur wechselte, wenn der betreffende Pfarrer die Stelle wechselte oder verstarb. Bis heute kennen wir die Namen dieser Pfarrer und wissen, welcher theologischen Richtung sie angehörten. Daraus erfahren wir auch, in welche Richtung Bach jeweils tendierte. Über die Institution des Beichtvaters war die geistliche und seelsorgerliche Begleitung der Menschen viel dichter wie heute!

In Leipzig wird auch das politische und kommunale Leben im Gottesdienst bedacht. In seiner berühmten Kantate »Brich dem Hungrigen dein Brot« (BWV 39) nimmt Bach zum heute aktuellen Thema Migration Stellung. Am Freitag, 13. Juni 1732 treffen 800 Migranten aus dem Salzburger Land in Leipzig ein, die aufgrund ihres lutherischen Glaubens die Heimat verlassen mussten. Zwei Tage später am 1. Sonntag nach Trinitatis erklingt diese Kantate, in der es heißt: »Selig sind, die aus Erbarmen sich annehmen fremder Not, sind mitleidig mit den Armen, bitten treulich für sie Gott«.     

 

                                                               Bachs Bibliothek für geistliche Studien       

Als Johann Sebastian Bach starb, hinterließ er eine wertvolle Bibliothek mit mehr als achtzig theologischen Büchern. Bach verfasste die Texte seiner Kantaten nicht selbst. Er war aber gebildet genug, die Entwürfe anderer in ihrer theologischen Qualität zu bewerten, zu entscheiden, ob sie in seinem Sinne theologisch richtig waren, sie im Bedarfsfall auch zu korrigieren oder zu ergänzen. Mit seinen Textdichtern hat er vermutlich intensiv debattiert.

Einige besonders bedeutsame Bücher, die für die Entwicklung der lutherischen Theologie wichtig waren, die Bach studierte und besaß, nenne ich.

Zunächst die große mehrbändige Bibelausgabe von Abraham Calov, Wittenberg 1681, eine mit theologischen Erklärungen und der Angabe von Parallelstellen versehene Ausgabe des Luthertextes. Die Gebrauchsspuren und viele handschriftliche Bemerkungen Bachs zeigen, dass er die ganze Bibel las, vor allem auch Stellen des Alten Testaments z.B. in den fünf Büchern Moses, den Geschichtsbüchern und Propheten. Das Alte Testament war für ihn besonders interessant, weil er darin prophetische Hinweise auf das, was sich dann in Christus erfüllte, erkannte. Besonders kennzeichnete er auch  die Zahlenangaben in der Schrift, weil er ihnen eine symbolische Bedeutung beimaß. Auch in den neunzehn Bänden mit Schriften Martin Luthers (in deutsch und lateinisch), die er hinterließ, erkennen wir, wie intensiv er sie gebrauchte. In der Forschung wird diskutiert, ob Bach theologisch mehr von der »lutherischen Orthodoxie«, von mystischen Strömungen, vom Pietismus oder auch von Gedanken der damaligen Aufklärung geprägt war. Alle Einflüsse sind feststellbar. Er war aber gebildet genug, sich nicht nur einer Richtung anzuschließen, sondern vielerlei Einflüsse in seinem eigenen Denken zu verbinden. Neben diesen theologisch dogmatischen Werken finden wir eine Sammlung von Gesangbüchern, darunter das Wagner’sche Gesangbuch von 1697 in acht Bänden mit 5000 Liedern. Dazu kamen Bücher über den Aufbau und die Gestaltung des Gottesdienstes. Eine große Rolle spielten damals Predigtsammlungen und Erbauungsbücher. Eine heute fast ausgestorbene Gattung sind gereimte Predigten, die als Vorlage für die Texte vieler Kantaten dienten. Sie waren damals Bestseller des Buchhandels.

Über die Entstehung eines solchen Buches lesen wir bei Pastor Erdmann Neumeister (1671 – 1756), der ab 1715 als Hauptprediger an St. Jacobi in Hamburg wirkte: »Wenn die ordentliche Amtsarbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner Privatandacht in eine gebundene Rede zu setzen, und mit solcher angenehmen Sinnenbemühung den durch Predigen ermüdeten Leib wieder zu erquicken. Woraus dann bald Oden, bald poetische Oratorien und mit ihm auch gegenwärtige Kantaten geraten sind«. (Vorrede 1704, S. 595f.)

Zwei Bücher, die für die theologische Arbeit Bachs und seiner Textdichter besonders wichtig waren, seien zusätzlich erwähnt. Das eine ist der große Bibelkommentar des sächsischen Oberhofpredigers Johannes Olearius (1611- 1684), der in fünf Bänden jedes Kapitel der Bibel erklärt, jeweils Querverweise zu anderen biblischen Stellen anbietet, jede Aussage  einem entsprechenden dogmatischen Lehrstück zuordnet, Wichtiges in Reimform wiedergibt und  exegetische Anmerkungen der Kirchenväter und Martin Luthers anfügt. In vielen Kantatentexten tauchen Formulierungen auf, die offensichtlich diesem großen Kompendium entnommen sind. Ähnlich verhält es sich auch mit der damals viel gelesenen Predigtsammlung »Evangelischer Herzens-Spiegel« des Rostocker Superintendenten Heinrich Müller (1631-1675), dessen gereimte Predigten in vielen Kantaten Bachs fast wörtlich zitiert werden.

 

                                                             Was hat Musik mit Gottes Geist zu tun?

Im Rahmen seiner biblischen Studien in der großen Calov–Bibel stößt Bach auf die Erzählung in 2. Chronik 5, wie Salomo den Tempel in Jerusalem einweiht und die Lade ins Allerheiligste bringen lässt. Die Lade ist Symbol für die  Gegenwart des Herrn. Deshalb wird dieser kultische Akt von Musik begleitet. »Alle Leviten, die Sänger waren, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. Und es war, als wäre es einer, der trompete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn«(2.Chron.  5, 12f.). Bach war bewegt und schrieb mit Tinte an den Rand: »Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart«. Kann man so sagen? Gilt das auch für Instrumentalmusik z. B. für die berühmte Hirtensymphonie im Weihnachtsoratorium, für Orchester- und die Orgelwerke? Immerhin schrieb er auf die Titelseite seines Orgelbüchleins »dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten draus sich zu belehren«.

Die theologische Überzeugung Bachs, dass bei einer »andächtigen Musique allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart« sei, resultiert nicht aus emotionalem Überschwang an seiner eigenen Musik oder aus einer pantheistischen Schwärmerei.

Bach orientierte sich an der Theologie Martin Luthers, der meinte »Gott hat das Evangelium auch durch die Musik gepredigt« (TR 1858). Luther berichtet: »Ich habe auch etlich geistliche Lieder zusammengebracht, das heilige Evangelium, so jetzt von Gottes Gnade wieder aufgegangen ist, zu treiben und in Schwange zu bringen« (WA 35 S. 474) »Die Musica ist eine Gabe und Geschenk Gottes. Sie vertreibt den Teufel, macht Menschen fröhlich und lässt vergessen allen Zorn, Unkeuschheit, Hoffahrt und andere Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musik den nächsten Locum und höchste Ehre. Und man sieht wie David und alle Heiligen ihre gottseligen Gedanken in Vers, Reim und Gesang gebracht haben« (WA30II, S.696).

Die »altprotestantische Orthodoxie« zur Zeit Bachs war nicht –wie viele heute meinen- nur ein verknöchertes, starres System von unverständlichen Dogmen. Es ging vor allem um die Frage, wie Christus heute, hier, aktuell in uns lebendig wird. Man entwickelte jedoch keine spekulative Lehre, wie der Mensch durch eigene Kraft, z. B. durch mystische Versenkung, Meditation oder fromme Übung Christus in sich beleben könnte. Sondern man fragte, in welcher Weise Christus –nach unserem Glauben- im Abendmahl präsent sei. Die Antwort ergibt sich aus der Lehre von Christus, der »Christologie«. Gemäß der »Zweinaturenlehre« ist Christus eine Person, in der die beiden Naturen »wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren« untrennbar und unvermischt verbunden sind. In der Lehre von der »communicatio idiomatum« (Austausch der Wesenseigenschaften) wird beschrieben, dass Christus überall, wo er ist, immer mit beiden Naturen als eine Person gegenwärtig ist. Martin Luther: »Er kann also sein in und bei den Kreaturen, auch wenn sie ihn von sich aus nicht erfühlen, berühren oder messen können« ((Von den Konziliis und Kirchen). Jesus beschreibt am Beispiel des Senfkorns das Handeln Gottes (Matth.13, 31). Luther spricht von Auferstehung, indem er einen Kirschbaum schildert, der im Januar dürr, kahl, tot und unfruchtbar aussieht, und nach Ostern voll im Saft und weiß von Blüten dasteht. »Also ist unser Haus, Hof, Acker, Garten und alles voll Bibel, da Gott durch seine Wunderwerke nicht alleine predigt, sondern auch an unsere Augen klopfet, unsere Sinne rühret und uns gleich ins Herz leuchtet« (AA 8, 395 a). Der Theologe und Dichter Philipp Nicolai (1556-1637), dessen Lieder »Wie schön leuchtet der Morgenstern« und »Wachet auf ruft uns die Stimme« Bach besonders schätzte, schreibt: »Dazu ist Christus nach dem Fleisch ganz und unzerstückt bei seiner Kirche, ganz und unzerstückt im heiligen Abendmahl, also auch ganz und unzerstückt bei allen Kreaturen«(Grundfest und richtige Erklärung, S. 216).

Auf dieser theologischen Grundlage gingen Luther, Nicolai und Bach davon aus, dass Gott in der Musik präsent sein und uns bewegen könne.

Bach hat dies immer wieder beschrieben und vertont in dem biblischen Bild von Christus als Bräutigam und der glaubenden Seele des Menschen, bzw. der ganzen Kirche als Braut. Das alttestamentliche Hohelied mit seiner Liebeslyrik gilt dafür als Vorbild. In einer frühen Pfingstkantate BWV 172 Erschallet ihr Lieder, fleht die Stimme der Sehnsucht: »Komm, lass mich nicht länger warten, komm, du sanfter Himmelswind, wehe durch den Herzensgarten!«  Bräutigam: »Ich erquicke dich mein Kind«. Und wieder die menschliche Sehnsucht: »Liebste Liebe, die so süße, aller Wollust Überfluss, ich vergeh, wenn ich dich misse«, selige Antwort: »Nimm von mir den Gnadenkuss«. Ein Bild für die mystische Vereinigung zwischen Gott und dem glaubenden Menschen.

In dieser von der Theologie abgedeckten Gewissheit, dass Christus auch in der Natur »unzerstückt« präsent sein könne, erinnerte  man sich an Ps. 19, 2: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«, entdeckte –mit Johannes Kepler-  in den Bewegungen des Himmels »nichts anderes als eine fortwährende Himmelsmusik«, so wie es in Weisheit Salomos 11,21 heißt:  »Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet«. In diesem Sinne ist »andächtige« Musik zusammengefügt aus Harmonien, Klängen, Proportionen und Ordnungen, die wir in Gottes Schöpfung als seine Ordnung finden. Das ist keine Vergötzung der Natur. Luther fügt ausdrücklich hinzu: »Dem Herr singen heißt nicht immer: fröhlich sein und sich freuen, im Gegenteil: Das »neue« Lied ist das Lied des Kreuzes, und das bedeutet: Gott loben und bei sich haben mitten in den Trübsalen und sogar im Sterben« (WA2 S.333). Es sei ein besonders Zeichen der Weisheit Gottes, dass die Musik »Gemütsbewegungen und Affekte« ausdrücken und verändern könne.  So wie David durch das Spiel der Harfe erquickt und der Prophet Elisa zur Weissagung erweckt wurde. (WA54, S.34, vgl. 2. Kön. 3,15).

Luther beschreibt noch eine weitere Beobachtung, warum die Musik dem Evangelium in besonderer Weise entspricht. Von Paulus ausgehend denkt er Gesetz und Evangelium immer zusammen. Im Gesetz zeigt uns Gott, wie wir leben sollen, und das Gesetz ist der Prüfstein, an dem wir unser Scheitern, unsere Sünde erkennen. Daneben steht das Evangelium als die Botschaft von Vergebung, Rechtfertigung und Befreiung, die festgefahrenes Leben noch vorne öffnet, ermutigt, tröstet und neu macht. Genau dieses Fließende, nach vorwärts Gerichtete verwirklicht sich nach Luther auch in der Musik. Im Dezember 1530 sagt er bei Tische: »Das Gesetz geht nicht vorwärts, das Evangelium geht vorwärts. So hat Gott auch durch die Musik das Evangelium verkündigt, wie man an Josquin (1450-1521) sieht, dessen ganze Komposition fröhlich, willig und milde hervorfließt, nicht gezwungen und durch Regeln genötigt, wie des Finken Gesang (TR2, 1258).

Bach findet in der musikalischen Form des Generalbasses sogar eine geistliche Dimension. »Der Generalbass ist das vollkommenste Fundament der Music, welcher mit beiden Händen gespielet wird dergestalt, dass die linke Hand vorgeschriebene Noten spielet, die rechte aber Con- und Dissonantien dazu greifet, damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts. ..Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist’ s  keine eigentliche Music, sondern ein teuflisches Geplärr und Geleyer«(Philipp Spitta II S.915f). Die linke Hand spielt einen stabil festgelegten Akkord, meist einen Dreiklang, der die Herrlichkeit des dreieinigen Gottes als Fundament der Schöpfung darstellt. Auf diesem Fundament zeichnet die rechte Hand die Vielfalt des Lebens und der Welt in Con- und Dissonanten ab. In allem Chaos eines Lebens bleibt ein Fundament erhalten.    

        

                                                                                  Bach als Ausleger der Bibel

Geprägt von der altlutherischen Orthodoxie war für Bach die »Verbalinspiration« der Heiligen Schrift selbstverständlich. Calov, dessen Bibelausgabe Bach benützte, meinte, die Verfasser der biblischen Schriften seien »Griffel, Hände, Sekretäre des Heiligen Geistes«, und in der Schrift könne nichts stehen, »was nicht von Gott dargereicht und eingegeben wäre«. Dieses Schriftverständnis führte aber bei Bach nicht zu einem starren, fundamentalistischen Umgang mit der Bibel. In größtem Respekt vor allem, was dasteht, studiert er jeden Text. Er kennt die damaligen Auslegungsmethoden, nach denen man von einem »mehrfachen Schriftsinn« ausgeht.

- Sensus litteralis: Zunächst geht es dabei um die präzise Wahrnehmung dessen, was dasteht, um ein vernünftiges Verstehen, so wie man auch andere Texte versteht. Das Sprachkunstwerk der Übersetzung Martin Luthers, eine Sprache, die sehr stark vom Klang der Vokale geprägt ist und in ihrem Rhythmus den Inhalt abbildet, hat Bach z. B. in seinen Rezitativen kongenial umgesetzt. Denken wir an die Passage »und ging hinaus und weinete bitterlich« oder an das vom Chor gesungene »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«.  Sprache informiert und setzt gleichzeitig in Bewegung, bringt in Schwingung.

- der dogmatische Schriftsinn: Dabei ging es um die dogmatisch – theologische Auslegung. Davon war in den Kommentaren, die Bach benutzte z. B. von Johannes Olearius, viel die Rede. Wird im jeweiligen biblischen Text die Lehre von der Person Christi, die Schöpfungslehre, die Rechtfertigungslehre, die Sündenlehre, die Lehre von Kreuz und Auferstehung, die Pneumatologie (Lehre vom heiligen Geist), die Ekklesiologie (Lehre von der Kirche), die Eschatologie (von den letzten Dingen und vom Ende der Zeit)  angesprochen? Es geht darum, dass alles, was die Kirche lehrt, auf die Schrift bezogen bleibt.

- Analogische Auslegung: Hier wurde in vielen Hinweisen aufgelistet, wo in der Bibel dasselbe in etwas anderer Weise ausgesagt wird. Für die Reformatoren galt der Satz »scriptura sui ipsius interpres«. Nicht ein Lehramt bestimmt, was die Bibel sagt, sondern wir erschließen den Sinn einzelner Texte auch aus dem Vergleich vieler ähnlicher Texte. Viele Predigten zur Zeit Bachs waren lang und langweilig, weil sie fast nur aus einer Aufzählung ähnlicher Stellen aus der Bibel bestanden. Der Dichter Gottsched, der zur Zeit Bachs ebenfalls in Leipzig lebte, beschwerte sich darüber bitter und meinte, die Predigt sei doch keine »Studierstube«. 

- Symbolische Auslegung: Für die symbolische Auslegung eines Textes war Bach besonders aufgeschlossen. Wenn Zahlen im Text vorkamen, ob Jesus auf einem Berg oder am Fluss predigt, was es bedeutet, dass es Brot, Wein oder Fisch zu essen gibt, darüber dachte Bach nach.  Als die Jünger in der Matthäuspassion fragen »Herr, bin ich’s?« wird diese Frage genau elfmal gesungen; einer der Jünger fehlt nun. In der Johannespassion heißt es »Wir haben eine Gesetze und nach dem muss er sterben«. Das Wort Gesetz wird zehnmal, zehn Gebote, wiederholt. An die Stelle 2. Mose 15, 20, wo Mirjam nach dem Durchzug durchs rote Meer eine Pauke nimmt und nach ihr alle Frauen mit Pauken ihr folgen, schreibt Bach in seine Calov-Bibel. »NB (d.h. nota bene, merke dir’ s gut): »erstes Vorspiel auf zwei Chören zur Ehre Gottes zu musizieren«. Beim Komponieren der Matthäuspassion hat er bestimmt daran gedacht.

Bach mag auch eine bildhafte Symbolsprache. Wenn er von Sünde redet, spricht er von Gift, Unrat, Aussatz. Gott, der Erlöser wird als Himmelskönig, Held, Licht und Sonne besungen. Mit diesen Metaphern wird emotional umschrieben, um was es geht. 

- Moralische Auslegung: Bei Bach finden wir immer wieder auch  ethische Hinweise, in denen gesagt wird, welches Verhalten daraus folgt. Z. B. die Arie »Bereite dich Zion«, »Brich dem Hungrigen dein Brot« oder »Ich will dir meine Herze schenken«.

                                                                       Die Kantate als gesungene Predigt

Zur Zeit Bachs gab es viele Modelle und Vorschläge, wie eine Predigt richtig aufzubauen und welche Aspekte anzusprechen seien. Zuerst müsse das Thema des Sonntags und der Predigt deutlich werden. Danach solle der Text vorgestellt und erklärt werden.  Zum dritten seien die Aussagen des Textes im Kontext der gesamten Bibel und Glaubenslehre darzustellen. Dann ginge es um »die Erregung und Dämpfung der Gemütsbewegungen«. Am Ende stünden auch Ermahnungen im Blick auf das Verhalten der Menschen. In diesem Modell von Predigt werden alle fünf Weisen, die Bibel auszulegen, die wir soeben beschrieben haben, einbezogen. Verblüffend ist, dass die meisten Kantaten Bachs genau nach diesem Muster aufgebaut sind. Das ist kein Wunder, wenn wir uns erinnern, dass viele Kantatentexte aus nachträglich gereimten Predigten entnommen wurden. 

Am Anfang steht der Eingangschor, in dem das Thema des ganzen Sonntags und des Evangelientextes angesprochen und besungen wird. Dann kommt das Rezitativ, in dem der Bibeltext in uns lebendig wird. In einem darauf folgenden »Arioso« oder »recitativo accompagnato« wird der Inhalt theologisch durchdacht und mit anderen Aussagen der Bibel in Beziehung gesetzt. Darauf folgt die Arie, in der eine sehr persönliche, manchmal fast intime, emotional bewegte Aneignung des Gesagten beschrieben wird. Glaube ist also nicht nur ein Fürwahrhalten der richtigen Lehre, sondern zugleich Bewegung des Gemüts, emotionales Ergriffensein. Damit Glaube und Kirche aber nicht in eine völlige Individualisierung auseinanderfallen, steht am Ende der Choral. Alle bleiben eingebunden in die Gemeinschaft der Heiligen, indem sie die Botschaft der Kantate miteinander singen.  Kantaten wurden schon vor Bach in der evangelischen Kirche musiziert. Aber dieser konsequente, predigtartige Aufbau wurde vermutlich von Bach und seinen Textdichtern entwickelt. eine künstlerische und theologische Errungenschaft.

Zur Verdeutlichung dieses Schemas zeigen wir es an der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums auf.

1. Eingangschor: Jauchzet frohlocket. Pauken, Trompeten, Streicher und Chöre. »Preiset die Tage« findet schon statt. Lasset das Zagen, verbannet die Klage! Einbruch des Heils! Alles, worum es an Weihnachten geht, klingt hier an.

2. Rezitativ: Es begab sich aber zu der Zeit…

3. Arioso : Nun wird mein liebster Bräutigam, nun wird der Held aus Davids Stamm zum Trost, zum Heil der Erden einmal geboren werden. Die Altstimme verkörpert die gläubige Seele, bei der Christus wie ein Bräutigam einzieht. Theologischer Zusammenhang wird aufgezeigt.

4. Arie: Bereite dich Zion. Emotionaler Höhepunkt. Bereite dich wie eine Braut. So wie Gott im Zion wohnt, so kommt er auch zu dir. Öffne dich für ihn.

5. Choral: Wie soll ich dich empfangen? Die beteiligte Gemeinde ist noch unsicher, wie sie den Bräutigam empfangen kann. Passion klingt in der Melodie an. Der Weg des Kindes führt zum Kreuz. Sind wir als Gemeinde und als Kirche offen für ihn?

                                                 Gnadengegenwart und Rekreation des Gemüts

 Gehen wir wieder in die Werkstatt des Meisters und entdecken die ungeheure Fülle seiner kompositorischen Möglichkeiten. Schauen wir wieder in die Matthäuspassion, die viele von uns kennen. Bach vermittelt in jedem Detail den Inhalt. »Da versammelten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Ältesten im Volk«. Wir hören eine absteigende Linie. Bach stellt die dreistufige Hierarchie im Tempel dar. Als Jesus die Frau, die ihn gesalbt hatte, verteidigt, weist er auf seinen Tod hin: »Dass man mich begraben würde«. Beim Wort »begraben« taucht das Motiv des Kreuzes auf. Das Arioso »Du lieber Heiland du« wird natürlich vom Alt gesungen. Die Stimme der gläubigen Seele tritt tröstend an die Seite ihres Herrn. Während die Stimme nach oben singt »Du lieber Heiland du«, hören wir in den Flöten die Ströme der Tränen abwärts. In der anschließenden Arie »Buß und Reu drückt das Sündenherz entzwei« sehen wir die  Tropfen der Tränen einzeln im Staccato fallen. »Dass die Tropfen meiner Tränen«. Wir können unzählige Zeichen solcher Kunst in der ganzen Passion aufspüren,  z. B. die Stichwortanschlüsse. Die Jünger fragen: Herr, bin ich’ s? Der Chor springt ein: »Ich bin’s, ich sollte büßen«. Oder: »Jesus schrie abermal laut und verschied«. Bitte der Gemeinde: »Wenn ich einmal soll scheiden«. Wir sind nicht nur Hörer, sondern Beteiligte, Betroffene.

Das, was erzählt wird, wird unmittelbar theologisch gedeutet. Z. B. Das Volk ruft: »Lass ihn kreuzigen«. Die Gemeinde deutet dies unmittelbar als stellvertretendes Leiden Christi.  »Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der gute Hirte leidet für die Schafe«. Der Landpfleger fragt »Was hat er denn Übles getan?« Die theologische Antwort kommt sofort von der Stimme des Soprans: »Er hat uns allen wohlgetan, den Blinden gab er das Gesicht«. Danach der Höhepunkt des ganzen Werkes, die Arie, Stimme des Gemüts: »Aus Liebe will mein Heiland sterben«. Die vielen Fermaten, wenn die Stimmen der Flöten stehen bleiben, abbrechen, ist das Tod, der auf Auferstehung wartet. So wie jene große Fermate im Credo der h moll Messe »sepultus est…et ressurexit«. Ende ist Zeit für Gottes neuen Anfang.

Man kann die Kompositionskunst Bachs erklären bis zur Ermüdung. Man kann zeigen wie er in jedem Wort durch Tonlage, Melodie, Intervalle, Tonart und Wechsel der Tonart, Rhythmus und Klang des Instruments das inhaltlich Gesagte in Musik umsetzt. Dann hätten wir aber, ähnlich wie bei einer Programmmusik, nur das äußere Geschehen abgebildet. Bach hat aber immer die fünf Dimensionen der Bibelauslegung im Blick. Es geht immer zugleich um den wörtlichen Sinn, um die christologische Dimension (»was Christum treibet«), um den Bezug zur Schrift insgesamt, um die symbolischen Tiefenschichten, um die moralische Konsequenz und auch darum, wie »Gott an unsere Augen klopfet, unsere Sinne rühret und uns gleich ins Herz leuchtet«(M. Luther), also auch um die psychischen Affekte und Gemütsbewegungen. Mit dem Aufbau seiner Kantaten und durch die Vielfalt seiner kompositorischen Mittel bringt Bach die biblische Botschaft in allen ihren Dimensionen zur Sprache und erfasst uns dadurch ganzheitlich im Denken, Handeln, Leib, Seele, Geist, Gefühl. Deshalb finden wir diese Musik nicht nur interessant oder lehrreich, reichhaltig oder bewundernswert –das alles auch-, sondern sie ist für uns eine »andächtige Musique«, in der wir »Gottes Gnadengegenwart« erfahren. In den vielen Partien, in denen die Einwohnung Christi in uns beschrieben wird, begegnen uns nicht nur amorphe, religiöse Stimmungen, wie sie heute weit verbreitet sind. Bei Bach ist Mystik –wie bei Paulus und Luther- immer Christusmystik. Wo dies durch die Musik geschieht, bewirkt sie genau das, was Luther von ihr sagte: Sie macht das Gemüt froh, verjagt den Teufel, bereitet Freude und lässt Zorn, Begierde und Hochmut vergehen Noch kürzer in der Sprache Bachs: Sie ist Musik »zu Gottes Ehre und zur Recreation des Gemüts«.

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